Es war kalt, und die Arbeit war eine körperliche Notwendigkeit, der Sinnlosigkeit entgegenzuwirken, die sich in einem fremden Land nach einigen Monaten einstellt. Der Zustand, ohne Beschäftigung zu sein, wird, genau wie zuhause, auch in der Fremde zur Sinnlosigkeit, allerdings ist sie dort leichter zu rechtfertigen, leichter zu ertragen und leichter zu überwinden. Die Mittel, die Sinnlosigkeit der Fremde zu überwinden, liegen überall bereit und laden zur Benutzung ein. Erst mit dem Gefühl der Sinnlosigkeit ist der gesunde Zustand des Fremdlings eingetreten, in dem er nach Beschäftigung verlangt und in dem er die Mittel erkennt, die ihm zu einer solchen verhelfen. Diese Mittel heißen zumeist: Ort, Zeit, Material, Prozess. Dies sind die Grundbedingungen des Schaffens, und nicht etwa die Fragen nach der Bedeutung der Arbeit in sich, der zugrunde liegenden Idee oder der Anwendbarkeit des Ergebnisses. In seinen Anfängen hat der Arbeitsprozess kein anderes Ziel, als aus der Fremdheit des Fremdlings die Sinnlosigkeit zu eliminieren. Die Arbeit in der Fremde lässt das Fremdsein erst in seiner ungestörten Freiheit ganz aufgehen, weil diese nicht mehr vom Gefühl der Sinnlosigkeit verstellt ist. Das Gefühl der Sinnlosigkeit in der Fremde heftet sich an die Freiheit, aber sowohl die Freiheit als auch die Sinnlosigkeit werden in der Fremde klar erkannt. In diesem Erkennen sind Ziel und Methode schon vorgegeben: Das Ziel ist die Ausschöpfung einer Frische des Blickes, die ich Freiheit nenne, die Methode ist zunächst die Eliminierung der Sinnlosigkeit durch Arbeit, dieses Gefühls, das aus Eitelkeit entsteht. Und die Kälte dieses fremden Ortes im Nordosten Europas war wir die physisch wahrnehmbare Fortsetzung des Gefühls der Sinnlosigkeit. Die Abwesenheit von Wärme und die Übertreibung dieser Abwesenheit bis ins Schmerzhafte, das Brennen in den Fingern und Fußzehen, die Trägheit und Anstrengung, die Wachheit auf der Suche nach Ablenkung von der Kälte – all das waren die abstoßenden und einladenden Ereignisse der Sinnlosigkeit. So ging mir die Sinnlosigkeit erstmals in ihrer Freundschaftlichkeit auf, nicht in ihrer Feindseligkeit. Denn obwohl sie die Freiheit verstellte, das Erlebnis derselben störte, war sie es doch, die Sinnlosigkeit, die mir die fremde, bezugslose Welt eröffnete und mich in diese hinein rief. Mein Verlangen nach Sinn wurde von den Dingen und Orten beantwortet. Mit der Sinnlosigkeit ging ja nicht jenes Vermissen eines vergangenen Zustandes einher, indem man noch Sinn und Ziel hatte. Es war nicht die frustrierte Sinnlosigkeit, die träumerische, nachdenklich-grüblerische oder sehnende. Die Sinnlosigkeit des neuen, fremden, fernen Ortes ist eine, die ohne ein jegliches Erinnern und Vermissen existiert und daher der reine Anfang bedeutet. Jede Handlung, die man im Zustand der Sinnlosigkeit in der Fremde vollzieht, ist von der Aura umwittert, der entscheidende Punkt zur Anknüpfung an diese fremde Welt zu werden. Die Kleinigkeiten leuchten wieder in der Fremde, wie sie es zuletzt am Anfang des Denkens taten – lange her, lange her. Das Material und die Menschen, das Wetter und die Luft, die Geräusche und die Naturgegebenheiten leuchten. Der Schmerz der Bewegungen in der Kälte leuchtet, der warme Kaffee am Morgen, das Lächeln oder die Wut des Nachbarn leuchten. Sie werden nicht etwa zu Zeichen, sondern zu Potentialen für die Sinnstiftung. Es ist leichter, in einem solchen Zustand des Beleuchtetseins von den Gegebenheiten und Ereignissen handelnd zu werden.

Als ich ankam, war Spätsommer. Ein rothaariges dünnes Mädchen, das ihren Kopf manchmal plötzlich hin und her warf zwischen Abgrund und Höhe der Freiheit, saß neben dem Schweißgerät, auf der Schwelle der Garagentür. Sie erschien mir von Beginn an älter als sie war, weil sie kälter war als in ihrem Alter üblich. Kein Lächeln war überflüssig, keine Bewegung spannungslos, keine ihrer Handlungen ineffizient. Wir beide waren die einzigen übrig Gebliebenen. Wir teilten uns die Werkstatt der Hochschule, um abwechselnd zu schleifen, zu sägen, zu bohren, zu schweißen. Wir schauten uns abwechselnd gegenseitig schweigend zu. So kam ich mit dem Eisen und der Hitze des Schweißens in Kontakt. Die ersten Versuche waren bereits geometrisch: ein kleiner Würfel, nur aus Gestänge. Man sollte ihn über eine Kurbel drehen können, und in ihm oder an ihm würde sich dadurch ein zweiter, noch kleinerer Würfel mit ihm und gleichzeitig um sich selbst drehen. Ich habe dieses Objekt nie fertig gestellt. Als ich damit beschäftigt war, die Zahnräder zu bauen, verlangte das Material nach weiteren Gedankenbögen. So wurde mein Denken rund und groß. Der Winter kam schnell und mit ihm die Gewissheit, beim Eisen bleiben zu müssen. Nach meinen Erfahrungen bei den Schmieden wusste ich, was ich am Schweißen schätzen konnte: die Rohheit des Vorgangs, die Ent-Ladenheit von jeglicher Mystik, von jedem Kunstanspruch im Vorgang der Arbeit. Gerät, Kabel, Elektrode, Zange. Keine Nord-Süd-Achsen, um das Eisen noch härter zu bekommen, keine archaischen Hämmer und dampfenden Essen. Kein verzwirbelter Stahl mehr oder geschnörkelter. Schweißen ist eine Geheimlehre von Kobolden, Schweißen ein Handwerk von Arbeitern. Nur noch ein Stück Material, bloß und gerade, verbunden mit dem nächsten Stück, an Nähten, funktional und notwendig. Ins Material hinein wollte ich, mehr wollte ich erfahren über diesen Stahl. Also musste mein Objekt groß genug werden, um mich im Innern aufnehmen zu können. Die ersten konkreten Zeichnungen wurden angefertigt, die Formen fanden ihre Ursprünge und Ausführungen, einige Assoziationen lagerten sich lose an, manche gingen, manche blieben. Eine davon, die nicht mehr losließ, war die des virtuellen Polygons. Diese Assoziation blieb so fest, dass ich genug Zeit hatte, sie zu betrachten und zu hinterfragen. Dass geradlinige, zur Kugel aneinander gefügte Eisenstäbe auf einen Wesenszug der Mathematik verweisen, nämlich darauf, dass sie approximativ ist, weil es in der Natur Formen gibt, die sich der Rationalität der greifbaren Zahlen entzieht. Zu diesen Formen gehören Nichtgeraden, von denen die Mathematik einerseits annehmen muss, dass sie unendlich viele Knickpunkte besitzen, um als Rundung zu erscheinen, andererseits sich aber eingestehen muss, mit dieser unendlichen Anzahl an Punkten in den Bereich der nicht-rationalen Zahlen zu gelangen, so dass es am Ende Kreiszahlen wie Pi geben muss, deren Nachkommastellen schlichtweg nicht notierbar, da weder endlich noch periodisch, sind. Hier fällt die Mathematik in ihrer Beschreibung hinter ihre eigenen theoretischen Definitionen zurück, oder anders: Das theoretische und das vorstellbare Denken schlechthin scheiden sich deutlich voneinander ab, werden überhaupt unterscheidbar, also erst jedes für sich ganz existent. Das Unendlicheck ist zwar in seiner Notwendigkeit, als solches da zu sein, vorstellbar, aber es ist nicht tatsächlich vorstellbar oder beschreibbar. Die klassischste und aufs Wesentlichste dieses Problems reduzierte Form ist die Kugel. Wahrscheinlich hat mich die Verwandtschaft zwischen geradlinigem, eine Rundung formendem Eisen und der mathematischen Beschreibung von Rundung so beherrscht, dass ich von Beginn an nur das Wesentlichste dieses Problems darstellen wollte und natürlich nicht ein Objekt von beliebiger Rundform bauen wollte, sondern eine Kugel.

Die Gleichförmigkeit der Arbeitsprozesse steigt mit dem Grad an Symmetrie der Form, die das zu bauende Objekt haben soll. In meinem Fall war ein Höchstmaß an Gleichförmigkeit und Wiederholung nötig. Hier schlägt sich noch einmal der Bogen zur anfangs erwähnten Sinnlosigkeit: Ist die Gleichförmigkeit des Arbeitsprozesses nicht die höchste Steigerung der Sinnlosigkeit? In einem konventionellen Sinn der Auffassung – ja. Beim gleichförmigen Arbeiten, etwa in einer Fertigungskette einer Fabrik, wird ein Höchstmaß an Effizienz erreicht. Das geschieht, weil der hinterfragende oder auf Korrektur und Verbesserung ausgerichtete Gedanke nicht zum Zeitpunkt der Arbeitsausführung stattfindet. Überhaupt ist jegliches Nach-Denken über Sinn, Richtigkeit oder Effizienz des Arbeitsprozesses obsolet, da all diese Fragen bereits zuvor gestellt und beantwortet wurden. Die Gleichförmigkeit des Arbeitsprozesses ist bereits das bestmögliche Ergebnis, das aus einer angemessenen Denkaufgabe als Lösung hervorgehen kann. Das gleichförmige Arbeiten ist in sich nicht die höchste Steigerung der Sinnlosigkeit, da es, vom Werk aus gesehen, die höchste Steigerung der Praktikabilität ist. Da die Sinnlosigkeit, von der oben die Rede war, aber aus menschlicher Eitelkeit erwächst und aus dem Wunsch, sich einer vorgefühlten Aufgabe angemessen verhalten zu können, also nicht „hinter sich selbst zurück zu bleiben“, kann dem nicht-denkenden Arbeiter, der nur die Prozessanweisung befolgt, die Gleichförmigkeit als Mangel erscheinen, sofern er mit einem hinreichenden Maß an Eitelkeit ausgestattet ist. In meinem Fall aber, bei aller Eitelkeit, war die Errungenschaft des effizienten, gleichförmigen Arbeitsvorgangs der Beweis und die gefühlte Gewissheit, dass ich mich der Symmetrie der Kugel gemäß korrekt verhalte. Die Form der Kugel, noch nicht ins Material gefügt, breitete sich schon in der harmonischen Zeitlichkeit der Arbeitsbewegungen und -abläufe aus, hat Einzug gehalten in den Arbeitstakt und war zuletzt sogar im Geräusch des Sägeblatts versteckt, dass ein Bündel Eisenstäbe an der richtigen Stelle durchtrennte. Mit der Extrahierung und dem Ausschluss des planenden Gedankens war die Arbeit zu einem gereinigten Prozess geworden, in dem sich eine angestrebte Form, deren Vorstellung im Vorhinein abgeschlossen war, durch die vorausgegangene korrekte Planung und Berechnung, also durch eine angemessene Unterwerfung unter die Regeln des Materials, der Physik und der Mathematik, ganz von selbst in die Material-Einzelteile einnisten konnte, diese gleichsam „beseelt“ hat mit geheimem Sinn und von dort, zeitweise aufflackernd, in Geräusch, Gestalt und Bewegung zum Vorschein kam. Das Gefühl, das Material sei mit Sinn belegt, beflügelte die Arbeit zeitweise dermaßen, dass ich jetzt geneigt bin zu behaupten, dass die Reduktion meiner vorhergegangenen Gedanken auf technisch-physikalische und mathematische Gesetzmäßigkeiten den Arbeitsprozessen, die nachfolgten, nicht nur ihre Gleichförmigkeit, sondern auch ihre Offenheit verliehen haben. „Sinn“ im Sinne von „Praktikabilität“ im Denken brachte „Sinn“ im Sinne von „Beseeltheit“ im Umgang mit dem Material hervor. Ist also der nach optimaler Anwendbarkeit und Benutzung des Materials fragende Gedanke der reinste Gedanke? Möglicherweise – denn verglichen mit all den im Vorhinein nach Bedeutung des Werks fragenden Gedanken oder all den Versuchen, sich das „schöne“ Werk zu denken, tritt im Moment der Arbeit niemals diese befreiende Ruhe ein, die hier waltete. Die Heidegger’sche Erkenntnis, das Seiende aus seiner Anwendbarkeit heraus als Stoff-Form-Gefüge aufzufassen, hat sich hier auf eine Ebene der Aktion übertragen: Ich war nicht mehr ich selbst, sondern ein in Gleichförmigkeit Handelnder. So handelt man, wenn man im richtigen Benutzen des Materials verschwindet, selbst Werkzeug des Materials wird, das längst zum Gefäß der Form geworden ist, die vorher gedacht, dann vergessen und in die Abläufe und Maße sich übersetzt hat. So wie jedes Werkzeug in seiner idealen Dienlichkeit verschwindet, so bin ich in der idealen Dienlichkeit meiner Arbeitsabläufe verschwunden. Dieses Verschwinden habe ich nicht als Schmerz empfunden; diese Dienerschaft war keine Knechtschaft oder Marter.

Hatten sich erst alle Dinge einmal mit dem eigenen Streben nach ihrer endgültigen Form aufgeladen, so gab es in den Abläufen nur noch schwer ein Halten. Allein die körperlichen Bedürfnisse, die nicht in der Arbeit verschwanden – Hunger und Durst zum Beispiel –, unterbrachen die Abläufe und störten sie bisweilen. Die Kälte war oft Hindernis, manchmal machte sie aber die Arbeit, einmal begonnen, erst recht zu einem erlösenden Akt. Die Sinnlosigkeit verschwand, da ich selbst in der Dienlichkeit verschwand. In den Pausen spannen sich Gedanken fort, lagerten sich weiterhin neue und alte Assoziationen lose an und optimierten sich Ablaufplanungen weiter, mögliche Fehler und Trugschlüsse im Vorfeld ausräumend und durch die Erfahrung mit dem Umgang des Materials sich präzisierend.

[22.12.2010 - Entwurf]